Kullamannen: 100 Meilen an der schwedischen Küste

Ein Ritter hoch zu Pferde, mit einer Fackel in der Hand reitet nur wenige Meter entfernt auf uns zu, Richtung Startlinie.
Nein, ich träume nicht. Es ist wenige Minuten vor 6 Uhr abends, Anfang November, im schwedischen Bastad. In Kürze werde ich zu einem 100-Meilen-Trail aufbrechen – etwa 164 Kilometer und knappe 3.000 Höhenmeter warten auf mich. Seit 3 Jahren bin ich nicht mehr so weit gelaufen und ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich das noch oder wieder kann. Doch es fühlt sich richtig an. Es ist pure Magie, hier zu stehen, im Dunkeln. 444 Starter warten auf den Startschuss, der uns alle in eine lange Reise hinaus katapultiert. Jeder Ultralauf ist das – eine Reise durch die Region und durch das Land, aber auch eine Reise zu sich selbst.

Die Stirnlampen sind noch ausgeschaltet. Jede Menge Zuseher säumen die Arena, die nur von Fackeln erhellt wird.

“2 minutes to the start!”

Die Sonne ist hier im Norden bereits um kurz nach 4 Uhr untergegangen und so konnten wir bei der Anfahrt zum Start ein wunderschönes Abendrot genießen. Noch am Vortag wusste ich eigentlich gar nicht, ob ich starten würde. Zu dem Zeitpunkt bin ich nämlich gemeinsam mit meiner Freundin und unseren insgesamt 6 Kindern (5 davon unter 7) seit eineinhalb Wochen in Schweden und Dänemark unterwegs. Der Schlaf ist ein Thema für sich, die Erholung ebenso. Jeder Trainingslauf in den Tagen davor fühlt sich einfach nur müde an. Doch als ich mir am Tag vor dem Rennen, nachts, einen Teil der Strecke ansehe, habe ich so ein Gefühl: Ich bin hier zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Tags darauf hole ich mir also im Zielort Mölle am Hafen die Startnummer ab und mache mich bereit.
Die Herausforderung beim Kullamannen ist nicht nur die Distanz, sondern vor allem das Wetter und die Versorgung. Außerdem gilt eine maximale Zeit von 32 Stunden, nur dann bekommt man den begehrten Kullamannen Finisher Ring. Im Gegensatz zu anderen Ultrarennen gibt es hier nur einen einzigen Dropbag bei Kilometer 108. Dazu gibt es 3 Stationen bei Kilometer 53, 108 und 142, wo es etwas zu essen gibt; dazwischen noch jeweils eine Station mit Wasser. Man sollte also mindestens 1,5 Liter Wasser mitführen, jede Menge Essen, warme Kleidung und auch Wechselkleidung. Essentiell ist auch die Beleuchtung, denn Sonnenaufgang ist um etwa 7.30 Uhr und Sonnenuntergang bereits um 16.15 Uhr. Das bedeutet, dass maximal 9 Stunden Helligkeit auf mich warten, der Rest des Rennens wird im Dunkeln mit Stirnlampe absolviert. Die Temperatur könnte speziell an der Küste sehr, sehr kühl werden. In meinem Rucksack habe ich von der Isolationsjacke über die 3-Lagen-Jacke, Wechselbekleidung und so weiter alles Nötige mit dabei. Ich bin schließlich nicht hierher gekommen, um möglicherweise wegen unzureichender Bekleidung nicht finishen zu können.

Oft werde ich gefragt, was ich bei so einem Lauf esse. Die Antwort ist meistens recht einfach: Das hat nichts mit Sport- oder Ernährungswissenschaft zu tun, die Frage ist immer nur, was man nach 10 oder 15 Stunden noch sehen und essen kann, ohne von permanenter Übelkeit begleitet zu werden – die ohnehin aufgrund der Anstrengung meistens irgendwann auftaucht. Bei mir funktioniert in der Regel Weißbrot mit Honig und ein wenig Erdnussbutter am besten – Kohlenhydrate, schneller Zucker,

Eiweiß und ein wenig Fett. Dazu habe ich viele Pfefferkuchen, Schokolade und Ingwer mit im Gepäck.
Auch bei der Beleuchtung gehe ich auf Nummer sicher: Eine starke Stirnlampe, ein leichtes Modell zum Austauschen und für den Notfall meine kleine Petzl Bindi, die nur knappe 35 g wiegt. Sicher ist sicher.

Doch zurück zum Start. “1 minute to the start!” Ich aktiviere den GPS Track auf meiner Uhr, schalte meine Stirnlampe ein – ich bin bereit. “10 seconds.” Kurz darauf ertönt der Startschuss. Statt eines Pace Cars reitet hier der Ritter voraus und geleitet uns auf die Strecke. Was für eine Atmosphäre!

Die Legende des Kullamannen
Die Geschichten, die sich um den Kullamannen ranken, wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Niemand weiß genau, woher die Geschichten stammen, aber eine Version und Quelle ist die Schlacht in Svolder am Öresund im September des Jahres 999. Der norwegische König Olav Tryggvasson war mit 11 Schiffen auf dem Weg nach Norwegen, als er von Olof Skötkonungs Flotte mit 70 Schiffen überfallen wurde, die sich hinter der Insel Ven versteckt hatte. Obwohl König Olav in der Unterzahl war, dauerte der Kampf lange und fast bis zum bitteren Ende. Olav war der letzte Überlebende und stürzte sich vom Schiff ins Wasser um seinem Gegner nicht die Genugtuung zu geben, ihn zu töten. Manche Geschichten besagen, er sei in dem Wasser ums Leben gekommen. Andere aber erzählen davon, dass er überlebte und vom Meer hinauf auf die felsigen Klippen des Kullaberg kletterte. Um 1220 entstand eine weitere Geschichte von einem Propheten und Astrologen mit übernatürlichen Kräften. Kullamannen soll die Kraft gehabt haben, Schiffe in die Enge des Kullaberg zu lenken, wo sich Östersjön und Kattegat treffen. Ebenso soll Kullamannen entschieden haben, wer von den steilen Klippen fallen oder überleben durfte. Eine weitere Legende besagt, dass Kullamannen ein Ritter mit gebrochenem Herzen war, der sich auf einem der abgelegensten Orte der Welt zurückzog, dem Kullaberg. Auf der Halbinsel hatte er ein Schloss, das ihn immer an seine Liebe erinnern sollte.
Er beschützte den Ort, bewaffnet mit einem Schwert und niemand soll sich je getraut haben, ihn dort aufzusuchen. Niemand scheint genau zu wissen, wer Kullamannen wirklich war, doch der Berg strahlt Magie und Stärke aus. Kullamannen war der unsterbliche Ritter, der sich immer auf die Seite der Schwachen stellte. Es gibt viele Geschichten darüber, wie an diesem Ort ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, Hilfe auftauchte; aber auch darüber, wie hart der Berg zu denen ist, die sich falsch benehmen – diese würden mit Rache und Zorn bestraft. Rau, aber gerecht. So sollte auch das Rennen werden…

Hinaus in die Nacht, die uns den Großteil der Zeit begleiten wird

Erst einmal laufen wir an der Promenade einen Prolog von 6 oder 7 Kilometern. Mein Rucksack ist schwer, doch es geht zügig voran und es tut gut, in den Laufschritt und in einen Rhythmus zu finden. Kurz darauf laufe ich im Startort Bastad noch einmal an meiner Familie vorbei. 13 Stunden Finsternis liegen nun vor mir. Erst laufen wir noch im Schein der Straßenlaternen, doch schon bald erhellt nur noch der Lichtkegel meiner Stirnlampe den Weg.
Das Gelände ist hügelig. Angesichts der Streckenlänge wechsle ich bei jeder Bergaufpassage in einen schnellen Geh-
Rhythmus, um der Muskulatur ein bisschen Abwechslung zu bieten. Flach und bergab wird alles gelaufen.
Nach etwa 17 Kilometern entlässt uns der Trail zum ersten Mal aus dem Wald. Plötzlich weht ein eiskalter Wind, der verrät, dass der Weg Richtung Küste führt. Wie eine Wand stellt er sich uns entgegen und ich nutze hier kurz die Gelegenheit, in einer Gruppe mitzulaufen. Wie im Peloton im Radsport wechseln wir uns mit der Führungsarbeit ab, um Kräfte zu sparen. Nach einigen Kilometern gelangen wir an den Strand und bei Kilometer 23 gibt es erstmals die Möglichkeit, die Wasserflaschen aufzufüllen. Nachdem die nächste Möglichkeit 28 Kilometer weit entfernt ist, mache ich das – randvoll. Die schönste Überraschung nach so kurzer Zeit ist aber, dass meine Familie hier noch einmal auf mich wartet. Es ist etwa halb 9 Uhr abends. Die Kleinste mit ihren 3 Jahren sitzt im Auto, weil es ihr zu kalt geworden ist. Obwohl Support streng verboten ist, stehle ich mir ein Soletti. Die Umarmung darf nicht fehlen und dann geht es für mich wirklich in eine lange, einsame Nacht. Die nächsten 20 Kilometer sind flach, sehr flach. Der Wind wird nicht weniger und das Gelände selbst ist geprägt von Steinen und noch mehr Steinen, die allesamt rutschig sind. Vorwärts kommen ist also nicht die einfachste Übung und positiv bleiben auch nicht so ganz. Dennoch versuche ich mich zum Laufen zu zwingen – mit einem 30-Minuten-Rhythmus. Das bedeutet 30 Minuten laufen, ein paar Minuten gehen, etwas essen und trinken, wieder laufen. So trickse ich mich selbst aus und das Ende dieser langen, flachen Passage rückt immer näher. Auch Kilometer 53 naht und damit die erste echte Labestation. Dort gibt es Kaffee und Zimtschnecken. Ich nehme mir ein wenig Zeit, stärke mich und dann geht es weiter. Noch einmal absolvieren wir die Prolog-Schleife, bald ist Kilometer 60 erreicht. Zu dem Zeitpunkt sind etwa 8 oder 9 Stunden vergangen, es spielt aber keine Rolle, denn das eigentliche Rennen beginnt erst viel später. 104 Kilometer bis ins Ziel. So weit denke ich aber grundsätzlich nicht, immer nur Schritt für Schritt, ein Zwischenziel nach dem anderen erreichen lautet die Devise. Wir wiederholen hier eine weitere Schleife, die wir bereits zu Beginn gelaufen sind. Jetzt weiß ich bereits, was auf mich wartet; der Unterschied ist der Boden, der durch die vielen Läufer jetzt noch wesentlich matschiger ist. Bloß nicht gleich im Dreck landen…
Die Stirnlampen werden weniger, das Feld hat sich auseinandergezogen. Ich mag die Einsamkeit. Die Dunkelheit stört mich ganz und gar nicht, einzig die Müdigkeit macht mir langsam zu schaffen. Die lange Reise mit den Kindern zuvor hat ihre Spuren hinterlassen, ich bin ungewöhnlich müde und schlafe ständig im Gehen ein. Auch mein Koffein-Shot hilft mir nicht besonders weiter. In Power Naps bin ich mittlerweile sehr geübt, doch der Wind ist so kalt, dass ich mich nicht einfach an einen Baum lehnen und 10 Minuten schlafen kann – danach wäre ich völlig unterkühlt. Ein bisschen durchhalten noch, sage ich mir. Bis nach Kilometer 80 lasse ich nichts unversucht, um wach zu bleiben. Taktiken? Ich klopfe mir mit den Fäusten auf die Oberschenkel, ins Gesicht, führe Selbstgespräche, singe, … die Wasserstation bei Kilometer 83 gegen 6 Uhr früh ist dann aber meine Rettung. In dem kleinen Zelt finden sich 2 Stühle, einer davon ist frei. Ein schwedischer Mitstreiter hat wohl auch kurz geschlafen und reicht mir sogar eine Decke. Hinsetzen, Augen schließen. Nach 10 Minuten werde ich wieder wach – es geht mir viel besser.

Die Morgendämmerung setzt langsam ein und ich freue mich in der Kälte der frühen Morgenstunden doch sehr auf ein bisschen Sonne und Wärme.
Die Knie, die Hüfte, dieses viele flache Laufen hinterlässt Spuren und immer öfter wechsle ich vom Laufen ins Gehen. Schmerzen sind bekanntlich nur Signale des Gehirns, die man gekonnt ignorieren kann. In der Mitte des Rennens bin ich mir nicht völlig sicher, das heute zu schaffen, aber der Wille ist definitiv da.
Für mich hat dieses Rennen eine ganz besondere Bedeutung, denn zum Einen ist es das erste wirklich lange Rennen nach meinem Bandscheibenvorfall im Jahr 2020, wo mir mehr als einmal gesagt wurde, dass ich ‘diesen’ Sport sicher nie wieder betreiben kann. Seitdem hatte ich immer die magische Zahl 100 im Kopf. Einmal wieder 100 Kilometer laufen, einmal wieder durch die Nacht laufen, die Zeit vergessen und im Hier und Jetzt ankommen. Das ist Ultralauf.
Mein Hauptziel ist es also an diesem Tag, in dieser Nacht, es mindestens 100 Kilometer weit zu schaffen. Das zweite Ziel ist Kilometer 139, denn dort warten alle Kinder und auch meine Mutter auf mich. Was wäre ich für ein Vorbild, würde ich vorher aufgeben? Ich, die immer davon spricht, wie wichtig es ist, stark zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen…
Das Ziel selbst bei Kilometer 164 ist die Draufgabe. Wenn ich das schaffe, bekomme ich den erwähnten Kullamannen Ring.
Doch eigentlich mache ich mir keine großen Sorgen. Mein Wille ist heute stark, ich mag Schweden sehr, es gefällt mir hier und ich fühle mich, den Umständen entsprechend, noch ganz in Ordnung.

Endlose Weiten

Der Sonnenaufgang ist wunderschön. Die graue Kälte der Nacht ist vorüber, das Meer strahlt in einem tiefen Blau, die Boote im Hafen werden von einem warmen Morgenrot zum Leben erweckt. Wie aus dem Nichts taucht ein Auto auf. Es ist Karin, meine Freundin mit den Kindern. Zählt ein Schluck Kaffee als Support? Abgesehen von einer festen Umarmung nach der langen Nacht ist diese Geschmacksexplosion ein Traum. 14 Stunden sind bereits vergangen und nun geht es wieder in den Wald hinein. Links, rechts, auf und ab. Erst bei Kilometer 108 wartet mein Dropbag und ein warmes Essen auf mich. Bis dorthin ist es noch ein langer Weg. Von dieser Passage habe ich keine großartigen Erinnerungen, ich sehne zu dem Zeitpunkt nur den Reis herbei, den ich mir am Vortag gekocht hatte. Dazu träume ich von Kaffee – auf die Schweden ist in der Hinsicht schon Verlass.
Ich war schon bei vielen Ultras dabei, es macht dabei einen großen Unterschied, ob es alle 10 Kilometer oder so wie hier nur dreimal innerhalb von 164 Kilometern etwas zu essen gibt. Grundsätzlich finde ich das aber gut – wozu gibt es Rucksäcke und wir sind schließlich nicht im Trail-Kindergarten. Außerdem ist das wie mit dem Hunger ansich: Je größer er ist, desto besser schmeckt das Essen.

Nach einem gefühlten Labyrinth durch den Wald erreiche ich endlich den genannten Checkpoint. Ich will jetzt nichts als etwas Warmes zu essen und zu trinken. Diese Linsen-Pasta-Mischung hier scheint mir sehr riskant zu sein, doch mein Reis ist eiskalt und ich will wirklich unbedingt etwas Warmes. Ein bisschen plaudern, ein paar Minuten hinsetzen, eine Zimtschnecke und noch mehr Umarmungen.
Langsam wird mir eiskalt und so ziehe ich weiter. Es geht durch den Sand, ein bisschen auf und ab, wieder in Richtung Küste.

Der beste Begleiter und Motivator

Wieder taucht eine böse Müdigkeit auf. Zum Glück laufen wir ein Stück auf einer Forststraße, denn so ist es nicht besonders gefährlich, immer wieder vom Weg abzukommen. Ich kann meine Augen gar nicht mehr offen halten und schlafe kurz darauf noch einmal 10 Minuten. Diesen kleinen Energiekick brauche ich für die nächste flache Passage am Meer bis Kilometer 130. Auch die anderen Läufer kämpfen sichtlich damit, sich immer wieder in einen Laufrhythmus zu motivieren; die Geher werden mehr und mehr. Das Schöne aber ist, dass nun die Phase des Rennens beginnt, in der man sich umeinander kümmert. Man fragt sich gegenseitig, ob alles ok ist, man fragt sich, ob man etwas braucht. Jeder will hier bis ins Ziel kommen. So manch einer setzt sich kurz in die Sonne und genießt den Blick aufs Meer, während er rechnet, wie viel Zeit noch übrig ist, um auch mittels Gehen bis 2 Uhr Früh den Zielort Mölle zu erreichen.

Ganz so lange möchte ich nicht brauchen. Kilometer 130 ist erreicht und ich komme den Kindern immer näher. Plötzlich ist es aber aus mit dem langweiligen, flachen Gelände. Endlich beginnt ein richtiger Trail, es geht auf und ab und auf und ab, immer mit Blick aufs Meer. Die Kormorane trocknen auf den Felsen ihre Flügel, um weiter fliegen zu können. Ich greife zum Lebkuchen, um weiter laufen zu können.
Der Nachmittag ist längst angebrochen, langsam dämmert es. Eine Stunde noch Tageslicht, dann ist wieder Stirnlampenzeit.

Meiner Mutter schreibe ich, dass ich bald bei ihnen bin. Noch ein kleines Stück, dann sehe ich schon meine ganze Familie. Es ist unbeschreiblich, wie schön und motivierend das ist. Die Kinder halten Plakate in die Höhe: “Mamsi, du schaffst es!”

Unglaublich schön, wenn die eigene Familie wartet

Eine andere Option als es zu schaffen, gibt es nicht, komme was wolle. Viele Umarmungen und Bussis, dann mache ich mich auf den Weg in die letzten 26 oder 27 Kilometer. Der eigentliche ‘Killer’ wartet erst auf den letzten 21 Kilometern, die sogenannte ‘Dödens Zone’, also Todeszone. Was das bedeutet, soll ich noch früh genug erfahren.

Erst einmal geht es einige Kilometer weiter nach Mölle, wo auch das Ziel ist. Jetzt wird es wirklich gemein, denn der letzte Checkpoint mit Essen und Trinken ist gleichzeitig auch die Zielversorgung. Während man also selbst unglaublich müde ist, jeder Schritt mühsam ist, sitzen hier die Finisher, vor allem die der kürzeren Distanzen, bei einem Bier oder einer Zimtschnecke und unterhalten sich über die Rennerfahrungen.
Bereits unterwegs hat mir ein vielfacher Finisher erzählt, dass diese letzte Runde locker 4 bis 5 Stunden in Anspruch nimmt. Er sollte Recht behalten…
Nach etwas mehr als 24 Stunden draußen in der schwedischen Kälte esse ich erst einmal zwei Becher Reis und etwas Suppe, um auch den Rest noch zu schaffen. Es ist aber ein großer Fehler, sich hier hinzusetzen. Mich ereilt ein Schüttelfrost, sodass ich auch meine Isolationsjacke brauche und jetzt wirklich laufen muss, um irgendwo in mir noch Wärme zu finden.
Ich will dieses Rennen finishen, dessen bin ich mir absolut sicher.

Jetzt geht es auf und um den legendären Kullaberg. Gäbe es hier keine Markierung, würde ich voll und ganz die Orientierung verlieren. Kreuz und quer laufen wir durch den Wald. Es ist stockdunkel und ich sehe nichts als Laub, Bäume und ein paar Reflektoren. Wir laufen vorbei an Kullamannens Grab und ich frage mich schon, was hier nun die Schwierigkeit sein soll. Dann taucht plötzlich, wie aus dem Nichts, ein unfassbar steiler und rutschiger Abstieg auf, der mich zum Meer hinunter führt. Steine… einer rutschiger als der andere. Der Weg weist aber schon wieder nach oben. Auf allen vieren klettere ich hoch, mein Kreislauf will mich fragen, was ich hier nun mache? Erst einen Tag und eine Nacht lang ein gleichbleibendes, stupides Tempo und plötzlich will ich klettern? Mein Puls schießt genauso in die Höhe wie der Weg, nun ist ein Seil gespannt, ohne dem ich hier auf dem erdigen Boden niemals hochkommen würde. Immer weiter, immer steiler, aber ich habe noch genug Energie und überhole jetzt viele meiner Mitstreiter. Ich laufe hier zwar gegen niemanden, dennoch ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich wohl noch wesentlich mehr Reserven habe als andere – auch wenn ich mich noch so kaputt fühle. Der Anstieg will lange Zeit nicht enden und es soll für eine lange Zeit sehr rutschig und felsig weitergehen. Doch das Gelände kommt mir zugute, es ist nicht mehr flach und meine Muskulatur ist dankbar für die Abwechslung. Das meiste kann ich – wenn auch langsam – laufen. Kilometer um Kilometer vergeht, zwischendurch wartet noch einmal Karin auf mich. Eine kleine Geste mit großer Wirkung. Sie versichert mir, dass es bis zum Leuchtturm an der Spitze der Insel gar nicht mehr weit ist und so ist es wirklich – dieser ist bald sichtbar und wirklich wunderschön. Noch nie habe ich einen so großen und schönen Leuchtturm erlebt, das ist etwas ganz Besonderes. Im felsigen Abstieg hüpfe ich an vielen Schweden vorbei, die das technische Gelände nicht gewöhnt sind. Es kann nicht mehr weit sein. Links, rechts… zur Sicherheit habe ich nun immer den GPS Track der Uhr im Blick. Zum Glück hält der Akku der Coros Uhr eine halbe Ewigkeit – ich muss mir keine Sorgen machen, dass diese plötzlich ausfallen könnte.
Meine Stirnlampe dagegen schaltet sich 2 Kilometer vor dem Ziel, mitten in den Felsen aus. Finsternis. Eine Reserve ist aber schnell im Rucksack gefunden. Wieder bin ich an der Küste. Ich höre die Meeresbrandung, ich sehe die Lichter des Zielorts Mölle. Es ist 11 Uhr abends, 3 Stunden vor dem Cut Off. Alles tut weh, es ist mir egal. Ich laufe. Ich laufe jetzt ins Ziel.


Noch einmal kurz durch den Ort und dann wird es mir bewusst: 164 Kilometer. Knappe 100 Meilen. Ich habe es geschafft. Aller Müdigkeit, aller schlechten Prognosen zum Trotz. Nie wieder wird das möglich sein? Offensichtlich ist alles möglich, wenn man nicht aufhört, an sich zu glauben. Die Wahrheit liegt immer in uns selbst.

Diesen Tag und diese beiden Nächte werde ich sehr lange in mir tragen. Der Kullamannen Ring wird einen ganz besonderen Platz bei mir zuhause einnehmen und mich an Glauben und Vertrauen erinnern.

Mehr Infos: www.kullamannen.com

Text: Sigrid Huber
Fotos: Karin Eibenberger / 2women2wild.com

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